Weg mit der Spritze
Immer zu den Mahlzeiten eine Dosis Insulin zu spritzen, gehört zum Alltag vieler Diabetes-Patientinnen und -Patienten – noch. Denn Wissenschaftler arbeiten bereits an neuen Strategien, um in Zukunft die Spritze durch andere Anwendungsarten zu ersetzen.

Insulin-Transport per Kapsel
Tabletten, Kapseln, Sprays oder Pflaster, Spritzen oder Pens: Bei der Wahl der richtigen Darreichungsform, also der Art, wie ein Medikament verabreicht wird, stehen Pharma-Forschern viele Möglichkeiten zur Verfügung. Doch warum muss gerade Insulin, das viele Diabetiker regelmäßig benötigen, gespritzt werden? Die Antwort liegt in der besonderen Struktur des Wirkstoffs. Im Gegensatz etwa zu Acetylsalicylsäure ist Insulin ein Protein-Hormon, das aus zwei langen Aminosäure-Ketten zusammengesetzt ist. Dadurch ist es sehr instabil gegenüber der Magensäure, die das Protein zersetzen würde. Und selbst wenn es den Weg durch den Magen schaffen könnte, gelangt ein Insulin-Molekül nur schwer über die Darmschleimhaut ins Blut. Diese Hürden wollen Wissenschaftler vom US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit einer neuartigen Kapsel überwinden.(1)
Mehrere innovative Ansätze vereint
Nach dem Schlucken gelangt die spezielle Kapsel, SOMA (Self-Orienting Millimeter-Scale Applicator) genannt, in den Magen, wo sie nach unten sinkt. Die Magensäure löst anschließend die Zucker-Umhüllung einer Stahlfeder auf, wodurch die am Ende der Feder befestigte Spitze aus gefriergetrocknetem Insulin in die Magenschleimhaut piekst. Durch ihre spezielle Form, die an die in Afrika lebenden Pantherschildkröten angelehnt ist, orientiert sich die Kapsel immer mit der richtigen Seite nach unten, auch wenn sie etwa durch Bewegungen des Magens umkippt. Von der Magenschleimhaut aus gelangt das Insulin dann ins Blut, und nach etwa einer Stunde hat es sich im ganzen Körper verteilt. Bislang wurde SOMA allerding nur bei Tieren getestet; und ob die Magenwand durch die ständigen Einstiche Schaden nimmt, muss ebenfalls noch geklärt werden. Die MIT-Forscher gehen davon aus, dass künftig nicht nur Insulin, sondern auch andere Medikamente mit größeren biotechnologischen Proteinwirkstoffen – zum Beispiel Antikörper – über eine solche Kapsel verabreicht werden könnten.(2)
Neue Alpha- statt alte Beta-Zellen
Ein internationales Team um Schweizer Forscher will einen komplett anderen, regenerativen Ansatz nutzen, um Diabetikern das regelmäßige Spritzen von Insulin zu ersparen. Dafür setzen sie auf umprogrammierte Zellen, wie sie kürzlich im renommierten Fachmagazin Nature bekanntgaben.(3) Denn es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden bekannten Diabetes-Typen: Während Typ-2-Diabetes hauptsächlich durch mangelnde Bewegung sowie ungesunde Ernährung entsteht und zu einer Insulin-Resistenz der Zellen führt, leiden Patienten mit Typ-1-Diabetes an einer Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Immunsystem die Insulin-produzierenden Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse angreift. Anstatt das benötigte Insulin von außen zuzuführen, haben die Wissenschaftler Alpha-Zellen der Bauchspeicheldrüse verwendet, die normalerweise kein Insulin produzieren, aber genetisch mit sogenannten Insulin-Transkriptionsfaktoren ausgestattet wurden. Solche Proteine kontrollieren, welche Gene – in diesem Fall diejenigen zur Produktion von Insulin – in einer Zelle aktiviert werden. Bereits bei Beta-Zellen wurde festgestellt, dass sie erst im Zellverbund mit der Insulin-Produktion beginnen. Und auch in der Bauchspeicheldrüse sind die verschiedenen Zell-Typen in speziellen Ansammlungen zu finden, den Langerhans-Inseln. Um diesen Effekt nachzuahmen, haben die Wissenschaftler deshalb die Alpha-Zellen zu künstlichen Inseln – also kleinen Klumpen mehrerer Alpha-Zellen oder Pseudoinseln – wachsen lassen.
Noch ein langer Weg bis zur Anwendung am Menschen
Eine Woche nach der Pseudoinsel-Bildung wurde bei 30 Prozent der Alpha-Zellen eine Insulin-Produktion festgestellt, nachdem sie mit Glukose behandelt wurden. Die Verwendung von Alpha-Zellen hat dabei möglicherweise sogar einen entscheidenden Vorteil: Da sie sich von den Beta-Zellen unterscheiden, sind die Alpha-Zellen potenziell weniger anfällig für die Bestandteile des Immunsystems, die bei Patienten mit Typ-1-Diabetes die Beta-Zellen zerstören. In weiteren Experimenten sollen nun die Erkenntnisse aus den Maus-Modellen auf ihre Anwendbarkeit an menschlichen Zellen untersucht werden. Bevor jedoch ein Verfahren auf Basis umprogrammierter Zellen standardmäßig zum Einsatz kommt, müssen die Forscher viele weitere Fragen klären, unter anderem wie sich die Zellen auf molekularer Ebene verändern.(4)
Andere Ansätze befinden sich hingegen bereits in klinischen Studien mit Menschen, wie etwa eine spezielle Kapsel, die mithilfe von Zusatzstoffen das Insulin vor dem Abbau in Magen und Darm schützen sowie die Aufnahme über die Darmschleimhaut erleichtern soll. So wird das Insulin beispielsweise erst freigesetzt, wenn die Kapsel die saure Umgebung des Magens verlässt. Dieser Ansatz befindet sich in Phase II der klinischen Prüfungen.(5)
In Phase III der klinischen Prüfung, und damit der letzten Phase vor einem Zulassungsantrag, befindet sich ein sogenanntes GLP-1-Analogon, das als Tablette genommen werden kann. GLP-1-Analoga sind spezielle Peptide, also kurze Proteinstücke, die die Funktion des Hormons GLP-1 (Glucagon-like peptide 1) nachahmen. Dieses wird in der Darmschleimhaut gebildet und beim Verzehr Glukose-haltiger Nahrung freigesetzt. Zusammen mit dem ähnlich funktionierenden Hormon GIP (Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid) bewirkt es eine Abgabe von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse in das Blut. Auf Grund der bisherigen positiven Ergebnisse könnte ein Zulassungsantrag im ersten Halbjahr 2019 in der EU und den USA eingereicht werden.
Literaturtipps
(1) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30733413
(2) https://www.tagesspiegel.de/wissen/biomedizin-die-spritze-zum-schlucken/23962676.html
(3) https://tinyurl.com/y5f7wptg
(4) https://www.nzz.ch/wissenschaft/forscher-wollen-mit-umprogrammierten-zellen-diabetes-behandeln-ld.1459832
(5) https://www.nature.com/articles/nrd.2018.183.pdf