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Zellen außer Atem

Am 10. Dezember 2019 wurde in Stockholm der diesjährige Medizin-Nobelpreis verliehen. Die Forschung der Preisträger zur Anpassung von Zellen an das jeweils verfügbare Sauerstoff-Angebot legte entscheidende Grundlagen für die Entwicklung neuer Medikamente (1) .

Illustration der drei Preisträger des Medizin-Nobelpreises 2019, William G. Kaelin Jr, Sir Peter J. Ratcliffe und Gregg L. Semenza

Wenn der Sauerstoff knapp wird

Jede einzelne Zelle benötigt Sauerstoff (O2) für die Zellatmung. Dabei werden energiereiche große Moleküle wie Zucker und Fette in kleinere Stücke abgebaut, die anschließend in den Mitochondrien – den zellulären Kraftwerken – weiter oxidiert werden. Die dadurch freiwerdende Energie wird auf andere Moleküle übertragen, die sie wiederum für energieverbrauchende Prozesse bereitstellen, zum Beispiel für die Kontraktion von Muskeln (1) . Wie viel Energie eine Zelle umsetzen kann, hängt demnach essenziell von der Menge an verfügbarem Sauerstoff ab. William G. Kaelin, Sir Peter J. Ratcliffe und Gregg L. Semenza haben herausgefunden, wie Zellen auf eine Sauerstoff-Knappheit reagieren.

Wenn den Zellen zu wenig Sauerstoff zur Verfügung steht, müssen sie auf andere Prozesse zurückgreifen, um ihren Energiebedarf zu decken. Ein wichtiger Teil dieser Anpassung besteht darin, dass die Zellen ihr Expressionsmuster ändern – also neue Gene ein- und andere ausschalten können.

Der US-Amerikaner Gregg Semenza untersuchte Anfang der 1990er Jahre die Bedeutung der Verfügbarkeit von Sauerstoff für die Bildung des Hormons Erythropoetin (EPO). Dieses bewirkt die Neubildung roter Blutkörperchen in der Niere und wird zum Beispiel zur Behandlung von Blutarmut (Anämie) bei chronischer Niereninsuffizienz und durch Chemotherapie eingesetzt. Dabei fand Semenza heraus, dass bestimmte DNA-Sequenzen in der Nähe des EPO-Gens für dessen Regulation in Abhängigkeit vom Sauerstoff-Gehalt verantwortlich sind. Gleichzeitig mit dem Briten Peter Ratcliffe erkannte er zudem, dass dieser Mechanismus in allen Zellen vorhanden ist, unabhängig davon, ob sie EPO produzieren oder nicht. An der Schnittstelle zwischen der chemisch-physikalischen Information über den O2-Gehalt und der biologischen Information über die aktiven Gene konnte Semenza ein für die Anpassung auf verschiedene O2-Konzentrationen wichtiges Protein ausmachen: den Hypoxia Inducible Factor (HIF) (2) .

HIF-Modifizierung entscheidet über Abbau oder Aktivierung

HIF besteht aus einer alpha- und einer beta-Untereinheit. Bei normalem O2-Gehalt wird HIF chemisch modifiziert, indem eine Hydroxy-Gruppe bestehend aus einem Wasserstoff- und einem Sauerstoffatom an die alpha-Untereinheit gebunden wird. Den nächsten Stein in diesem Puzzle trug der US-Amerikaner William Kaelin bei, der an der Ursache einer genetisch bedingten Krebserkrankung, dem von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL-Syndrom), forschte. Dabei gelang es ihm und seinem Team, ein Molekül auszumachen, das normalerweise die Tumorentwicklung unterdrückt. Ist aber wie bei den VHL-Patienten das gleichnamige VHL-Protein mutiert, werden verstärkt andere Sauerstoffmangel-assoziierte Gene aktiviert, was etwa die Entstehung von Tumoren fördern kann. Ratcliffe konnte wiederum zeigen, dass VHL und HIF-alpha Interaktionspartner in der Zelle sind: Bindet VHL an HIF-alpha, so wird letzteres über das Proteasom, das wie ein zellulärer Mülleimer funktioniert, abgebaut (3) .

Dieser Ablauf wird allerdings unterbrochen, wenn nur wenig Sauerstoff zur Verfügung steht. Dann findet keine Modifikation von HIF-alpha statt und dieses lagert sich anstelle von VHL mit seiner anderen Untereinheit – HIF-beta – zusammen. Das HIF-Duo gelangt anschließend in den Zellkern, wo es an die DNA bindet. Dort wirkt es als Transkriptionsfaktor, also als Molekül, das die Aktivierung von Genen steuern kann. Die Zielgene von HIF bewirken etwa eine Umstellung des Zellstoffwechsels auf Reaktionen ohne Sauerstoffverbrauch sowie die Bildung von Blutgefäßen oder eben die Produktion von EPO, das wiederum zur Bildung von roten Blutkörperchen führt (4) .

Mit Wirkstoffen am Sauerstoffhahn drehen

Mit ihrer Forschung legten Kaelin, Ratcliffe und Semenza zudem entscheidende Grundlagen für die Entwicklung neuer Medikamente gegen Anämie bei bestimmten Nierenerkrankungen. Diese als HIF-Prolylhydroxylase-Inhibitoren bezeichneten Wirkstoffe hemmen dabei das Enzym, welches bei hohem Sauerstoffspiegel die Hydroxy-Gruppen an HIF-alpha anfügt und bewirken dadurch das Auslesen der von HIF gesteuerten Gene. Als Resultat steigt etwa die EPO-Produktion, sodass die Patienten sich diesen Wirkstoff nicht mehr spritzen müssen. Aktuell befinden sich acht Substanzen dieser Wirkstoffklasse in der klinischen Prüfung (5) .

Außerdem werden derzeit zwei weitere Moleküle für den Einsatz bei Krebspatienten untersucht, die in das Sauerstoff-Sensor-System eingreifen. Indem sie die Zusammenlagerung von HIF-alpha und -beta verhindern, sollen
HIF-2alpha-Antagonisten bewirken, dass Tumore die Sauerstoffmangel-Gene nun nicht mehr aktivieren können. Sie könnten somit von der für jede Zelle überlebensnotwendigen Versorgung mit Sauerstoff abgeschnitten werden.

Das Nobelkomitee zeichnet 2019 die drei Forscher aus, da sie entscheidend an der Aufklärung der zellulären Regulation durch Sauerstoff beteiligt waren. Der Nobelpreis für Medizin wurde traditionsgemäß gemeinsam mit den Preisen der Kategorien Physik und Chemie am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, vom schwedischen König in Stockholm verliehen; am gleichen Tag wurde der Friedensnobelpreis in Oslo überreicht.

Literaturtipps