Mit Chili, Druck und Reaktionsbeschleunigern – Nobelpreisträger 2021 lieferten wichtige Beiträge für Medikamentenforschung und -produktion
Am 10. Dezember 2021 werden in Stockholm feierlich die Nobelpreisträger dieses Jahres geehrt. Während die Arbeiten der Preisträger der Kategorie Medizin auch wichtige Grundsteine für die Entwicklung von Medikamenten zur Schmerzbehandlung legten, trugen die Preisträger der Kategorie Chemie dazu bei, die Pharmaproduktion effizienter und nachhaltiger zu gestalten.
Medizinnobelpreisträger entdeckten molekulare Sensoren für Temperatur und Druck
Ardem PatapoutianBei der Wahrnehmung von Sinneseindrücken müssen physikalische Reize über elektrische und chemische Signale im Körper weitergeleitet werden, um dann eine biologische Reaktion auszulösen. Wie genau diese Informationsübertragung für die Druck- und Temperaturerkennung in Nervenzellen anfängt, haben David Julius und Ardem Patapoutian mit ihren Teams herausgefunden. Dafür werden die beiden Forscher mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2021 ausgezeichnet.(1)
David JuliusUm zu untersuchen, wie Zellen unangenehme Temperaturen erkennen und etwa einen Hitzeschmerz als Reaktion auslösen, griff der US-Amerikaner David Julius auf einen experimentellen Kniff zurück: Er nutzte den Stoff Capsaicin, um den Hitzeeffekt auszulösen. Capsaicin ist ein kleines Molekül, das vor allem in Chilischoten vorkommt und auf Zellebene dieselben Prozesse anstößt wie bei einer Temperaturerhöhung, weshalb man sich beim Essen von mit Chili gewürzten Gerichten gefühlt auch „den Mund verbrennt“.
Zunächst erstellte Julius eine DNA-Bibliothek der Gene, die in Nervenzellen, die Hitzereize erkennen und weiterleiten können, aktiv sind. Anschließend wurde jedes Gen aus der Bibliothek einzeln in andere Zellen eingefügt, die eigentlich nicht auf Hitze reagieren, und ihre Antwort auf die Zugabe von Capsaicin getestet. So gelang ihm die Identifizierung des TRPV1-Rezeptors, einem Kanalprotein in der Zellmembran, das bei Temperaturen über 40°C Kalzium-Ionen in die Zelle einströmen lässt.(2)
Stilllegung von Genen ermöglichte Entdeckung von Druckrezeptoren
Zeitgleich mit dem libanesisch-US-amerikanischen Forscher Ardem Patapoutian entdeckte Julius zudem den Kälterezeptor TRPM8. Patapoutians wichtigste Leistung war jedoch die Entdeckung von Rezeptormolekülen für Druck, wofür er ebenfalls mit dem Medizinnobelpreis 2021 ausgezeichnet wird.
Bereits seit den 1980er Jahren waren mechanisch aktivierbare Kanalproteine bekannt, die es Bakterien erlauben, sich an Veränderungen ihrer Umwelt anzupassen. Die Suche nach verwandten Molekülen bei Wirbeltieren verlief jedoch lange Zeit ergebnislos. Erst Patapoutian gelang mit aufwendigen Experimenten die Aufklärung des fehlenden Puzzlesteins. Grundlage seiner Arbeit war die Entdeckung von Neuro2A-Zellen, die mit einem elektrischen Signal auf einen Druckreiz reagieren.
Für die Identifizierung des Druckrezeptors nutzte Patapoutian anschließend ähnlich wie Julius einen systematischen Ansatz. Dabei wurden mithilfe der RNA-Interferenz-Technik nacheinander alle Gene in Neuro2A-Zellen ausgeschaltet, die als Kandidaten für Druckrezeptoren infrage kamen. Und schließlich führte ausgerechnet die Inaktivierung des letzten Gens der Versuchsreihe dazu, dass die Zellen unempfindlich gegenüber einem Druckreiz wurden. Umgekehrt bewirkte das Einbringen des als PIEZO1 benannten Rezeptors in einem Experiment mit gezüchteten Nierenzellen, dass diese ebenfalls ein elektrisches Signal als Reaktion auf einen Druckreiz erzeugten.(3)
Ausgezeichnete Arbeiten schaffen Grundlagen für neue Schmerzmedikamente
Die Arbeiten von Julius und Patapoutian führten dazu, dass in kurzer Zeit viele weitere Temperatur- und Drucksensoren entdeckt wurden. Einige sind dabei nicht nur an der Sinneswahrnehmung beteiligt, sondern auch für andere Körperfunktionen von Bedeutung. So spielen PIEZO-Rezeptoren beispielsweise auch eine wichtige Rolle für den Atmungsreflex oder den Blutdruck, während Mutationen in den TRPV-Kanälen die Regulation der Körpertemperatur stören können. Zugleich eröffnen diese Erkenntnisse neue Ansätze für die Entwicklung von Medikamenten, insbesondere zur Behandlung chronischer Schmerzen.(4) So werden Pflaster auf Capsaicin-Basis bereits bei schweren neuropathischen Schmerzen eingesetzt, und ein synthetischer Wirkstoff, der an TRPV1 bindet, wird in klinischen Studien zur Behandlung von Schmerzen bei Gelenkarthrose getestet.(5)
Ein nachhaltiger Katalysator für die Pharmaproduktion
David MacMillanMit dem Chemie-Nobelpreis 2021 werden David MacMillan von der Princeton University sowie Benjamin List vom Mülheimer Max-Planck-Institut für Kohlenforschung ausgezeichnet. Das Nobelkomitee würdigt mit der Auszeichnung die Beiträge der beiden Forscher zur Entwicklung der asymmetrischen Organokatalyse. Katalyse bezeichnet die Beschleunigung chemischer Reaktionen durch Stoffe, die bei der Reaktion selbst nicht verbraucht werden. Häufig werden als Katalysatoren Metalle eingesetzt, jedoch sind diese meist teuer, giftig oder umweltschädlich. Alternativ können oft auch Enzyme eingesetzt werden, welche aber aufwendig in biotechnologischen Verfahren produziert werden müssen. List und MacMillan haben mit ihren Forschungen eine völlig neue Art von Katalysatoren entwickelt, die sich vom Labormaßstab bis zum Industrieprozess einsetzen lassen.(6)
Benjamin ListIm Mittelpunkt der asymmetrischen Organokatalyse stehen kleine Verbindungen, die Reaktionen nicht nur beschleunigen, sondern zugleich auch deren Verlauf so steuern, dass als Produkt nur eines von mehreren sogenannten Enantiomeren entsteht. Darunter werden verschiedene Formen eines Moleküls bezeichnet, die sich in der dreidimensionalen Anordnung der Atome so unterscheiden, dass sie zueinander spiegelbildlich sind. Oft wollen Chemiker:innen jedoch nur eine der beiden jeweils möglichen Formen synthetisieren, weil nur sie die gewünschten Eigenschaften beispielsweise als Wirkstoff in einem Arzneimittel hat.
Mit ihren Pionierarbeiten haben List und MacMillan eine gezielte und nachhaltigere Herstellung komplexer chemischer Arzneimoleküle ermöglicht. So wird asymmetrische Organokatalyse unter anderem zur schnellen Synthese von Wirkstoffkandidaten für Labortests oder für die effiziente Großproduktion von HIV-Medikamenten eingesetzt.(7)
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Festveranstaltung auch dieses Jahr wieder ohne Preisträger in Stockholm
Auch die Preisträgerinnen und Preisträger in den anderen Kategorien haben mit ihren Arbeiten die Menschheit vorangebracht – ganz im Sinne der Stiftungsziele Alfred Nobels. So trugen die drei Laureaten des Physiknobelpreises, Syukuro Manabe, Klaus Hasselmann und Giorgio Parisi zum besseren Verständnis des Klimawandels und von anderen komplexen Systemen bei. In den anderen Nobelpreis-Kategorien werden Abdulrazak Gurnah (Literatur), Maria Ressa und Dmitry Muratov (Frieden) sowie David Card, Joshua Angrist und Guido Imbens (Alfred Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften) geehrt.(9)
Die feierliche Verleihung der Nobelpreise erfolgt traditionell jährlich am 10. Dezember – dem Todestag Alfred Nobels. Wie schon im vergangenen Jahr, findet die Zeremonie auch 2021 wieder ohne die Preisträger in Stockholm statt. Wer virtuell an der Preisverleihung teilnehmen möchte, kann sich diese am 10. Dezember ab 13 Uhr im Livestream auf der Website der Nobelstiftung anschauen: https://www.nobelprize.org/nobel-week-live-streams-2021/
Literaturtipps:
(1) https://www.nobelprize.org/prizes/medicine/2021/press-release/
(2) https://www.nobelprizemedicine.org/wp-content/uploads/2021/11/PM_eng_FINAL.pdf
(3) https://www.nobelprizemedicine.org/wp-content/uploads/2021/11/Adv_info_FINAL.pdf
(4) https://www.dw.com/de/medizin-nobelpreis-2021-some-like-it-hot/a-59350666
(5) https://www.reuters.com/business/healthcare-pharmaceuticals/julius-patapoutian-win-2021-nobel-prize-medicine-2021-10-04/
(6) https://www.br.de/nachrichten/wissen/chemie-nobelpreis-geht-an-deutschen-und-amerikaner,Sl2Ez0C
(7) https://www.mpg.de/17661352/benjamin-list-erhaelt-den-nobelpreis-fuer-chemie
(8) https://www.vfa.de/de/presse/pressemitteilungen/pm-019-2021-zum-chemie-nobelpreis-praemierte-synthesemethode-wertvoll-fuer-die-herstellung-von-arzneimittel-wirkstoffen.html
(9) https://www.nobelprize.org/all-nobel-prizes-2021/