Wissenschaftlicher Durchbruch 2021: Zwei Algorithmen knacken den Protein-Code
Von künstlichen Antikörpern bis zu Genscheren - das Fachmagazin Science kürt neun wissenschaftliche Durchstarter des vergangenen Jahres. Als der Durchbruch 2021 werden jedoch zwei Algorithmen zur Vorhersage von Proteinstrukturen ausgezeichnet, die neue Möglichkeiten in der Medikamentenentwicklung eröffnen könnten.(1)
Ein Turbo für die Medikamentenforschung
Mit Spannung wartet man in der Forschungscommunity immer kurz vor Weihnachten auf den Rückblick der Fachzeitschrift Science, die als Highlight den Scientific Breakthrough – also den wissenschaftlichen Durchbruch – sowie die neun Runners up (Durchstarter) unter den Entdeckungen des zurückliegenden Jahres kürt. Zum ersten Mal seit drei Jahren waren sich Jury und Publikum wieder über den Scientific Breakthrough einig: Sowohl die Fachexpert:innen als auch das Publikum stimmten mehrheitlich für zwei Algorithmen, mit denen die 3D-Struktur von Proteinen vorhergesagt werden kann. Weil damit völlig neue Möglichkeiten für die biochemische Grundlagenforschung eröffnet werden, aber auch die Entwicklung von Medikamenten deutlich beschleunigt werden könnte, sprechen einige Wissenschaftler:innen sogar von einer Revolution der Biologie.(1)
Aufklärung der Proteinstruktur ist Grundlage für Pharma-Forschung – aber aufwendig
Proteine sind die molekularen Werkzeuge des Lebens. Sie haben vielfältige Aufgaben, katalysieren als Enzyme alle Stoffwechselreaktionen, bauen als Strukturproteine die Zellen auf oder sind als Antikörper unser wichtigster Schutz gegen Infektionserreger. Entscheidend für ihre Funktion ist dabei ihre 3D-Struktur – man spricht auch von der Proteinfaltung.
Zwar ist durch große Sequenzierungsprojekte wie das Humangenomprojekt der Bauplan der meisten Proteine in Gestalt ihrer Aminosäuresequenz bekannt, die Faltung lässt sich jedoch nur mit langwierigen und teuren Methoden experimentell bestimmen. Dabei ist gerade das Wissen um die Proteinstruktur von entscheidender Bedeutung, etwa um Interaktionen zwischen Proteinen zu verstehen oder um Wirkstoffmoleküle zu designen, die spezifisch an bestimmte Stellen im Protein binden. Deshalb ist es ein lang gehegter Traum, die Faltung allein auf Basis der Aminosäuresequenz vorhersagen zu können.(2)
KI-Programme bestimmen Proteinstrukturen so gut wie Laborexperimente
Diesen Traum haben nun sowohl ein Team der britischen Firma DeepMind mit ihrem Programm AlphaFold 2 als auch eine internationale Forscher:innengruppe, die den Algorithmus RoseTTAFold entwickelt hat, wahr werden lassen. Beides sind Softwares für künstliche Intelligenz, die mit hunderttausenden bekannten Proteinstrukturen trainiert wurden. Die erhaltenen Modelle sind so gut, dass die von ihnen vorhergesagten 3D-Strukturen für neue Proteine in vielen Fällen mit den experimentellen Daten übereinstimmen – eine bisher unerreichte Genauigkeit. Außerdem hat DeepMind in Kooperation mit dem europäischen Bioinformatik-Institut für fast alle menschlichen Proteine die Struktur vorhergesagt und in einer frei zugänglichen Datenbank veröffentlicht.(3)
Zwar gelingt den Programmen nicht immer diese hohe Qualität der Modelle, und auch die Strukturen von Protein-gebundenen Wirkstoffen lassen sich so noch nicht bestimmen. Dennoch werden AlphaFold 2 und RoseTTAFold viele Laborexperimente ersetzen können. In der Arzneimittelforschung erhofft man sich deshalb, nicht nur schneller zu neuen Molekülkandidaten zu kommen, sondern diese auch besser zu designen sowie bisher schwer untersuchbare Proteine als Zielstrukturen für die Medikamentenentwicklung nutzen zu können.
Mehrheit der wissenschaftlichen Durchstarter kommt aus den Life Sciences
Neben dem wissenschaftlichen Durchbruch sind die Lebenswissenschaften auch unter den Durchstartern aus 2021 wieder stark vertreten, denn sechs der neun von Science gewählten Runners-up sind Ergebnisse aus Biologie und Medizin:
- Dazu zählt auch ein Feld, das bereits vor zwei Jahren zu den Runners-up gehörte: Während 2019 noch die Erforschung der Menschheitsgeschichte mittels DNA aus 50.000 Jahre alten Kieferknochen ausgezeichnet wurde, gelang Forschenden nun die Sequenzierung von DNA, die über 80.000 Jahre alt ist. Das Besondere daran ist, dass sie diese Erbgutproben nicht etwa in Fossilien fanden, sondern sie aus Erdproben von Höhlen in Spanien und Georgien isolierten. Von den Ergebnissen erhofft man sich neue Einblicke in die Entwicklung des Menschen.(4)
- Dass es dank beispielloser Anstrengungen in Wissenschaft, Pharma- und Biotechindustrie gelang, in Rekordzeit mehrere hochwirksame Impfstoffe zu entwickeln, wurde deshalb nicht nur von Science zum Durchbruch des Jahres 2020 ernannt. Doch wie hilft man Patient:innen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können oder bei denen das Virus die Immunantwort der Impfung überwindet? Um zu verhindern, dass diese Menschen auf eine intensivmedizinische Behandlung angewiesen sind, werden neue antivirale Mittel benötigt. 2021 konnten nun mehrere Wirkstoffe in klinischen Studien das Risiko für die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung um 30 bis 90% reduzieren, was ihnen zugleich zum Durchstarter des vergangenen Jahres verhalf.
- Neben kleinen Wirkstoffmolekülen erhoffen sich Ärzt:innen insbesondere auch von Biopharmazeutika wie Antikörpern Durchbrüche in der Behandlung von lebensbedrohlichen Infektionskrankheiten. Neue Technologien wie die Isolierung der besten Antikörper aus dem Blut genesener Tiere und Menschen, Verbesserungen der Strukturanalyse und Proteinvervielfältigung erlauben nun die effiziente Entwicklung und Herstellung therapeutischer Antikörper gegen SARS-CoV-2 sowie gegen andere Viren. Diese haben bereits vielversprechende Ergebnisse in klinischen Studien gezeigt und wurden deshalb ebenfalls als Runners-up ausgezeichnet.
- Bisher ist erst wenig über die frühe Embryonalentwicklung und damit darüber bekannt, wie die Grundlagen für die Bildung von Organen, Gliedmaßen und des Nervensystems gelegt werden. Genauere Einblicke in diese Prozesse könnten nun durch Entdeckungen gelingen, die Forschende 2021 gemacht haben und die ebenfalls in die Liste der Runners-up aufgenommen wurden. Einem israelischen Team gelang es erstmals, Maus-Embryonen bis zu elf Tage außerhalb der Gebärmutter reifen zu lassen – fast drei Mal so lang, wie es bisher möglich war. Andere Gruppen fanden dagegen neue Wege, ausgereifte menschliche Zellen so zu re-programmieren, dass sie sich wie bestimmte Stammzellen – sogenannte Blastocysten – verhalten.
- Bereits mehrfach unter den Runners-up der vergangenen Jahre zu finden war die „Genschere“ CRISPR/Cas; zudem wurden ihre beiden Hauptentdeckerinnen mit dem Chemie-Nobelpreis 2020 ausgezeichnet. Dass zwei Teams nun der Einsatz von CRISPR/Cas bei der Behandlung genetisch bedingter Erkrankungen gelang, zeichnet Science ebenfalls als Durchstarter 2021 aus. Konkret würdigt das Fachmagazin damit, dass CRISPR/Cas dabei erstmals erfolgreich in vivo, also direkt in den erkrankten Personen eingesetzt wurde. Bei den bisher untersuchten Methoden mussten den Patient:innen erst Zellen entnommen werden, die ihnen nach der gentechnischen Veränderungen mit CRISPR/Cas im Labor wieder zugeführt wurden. Für die neue in vivo-Therapie verpackten die Wissenschaftler:innen die benötigten Moleküle in Lipidkapseln bzw. in harmlose Viren, um die Genschere so zu den Zielzellen zu bringen.(5)
- Und auch auf einem anderen Feld der Medizin brachte das Jahr 2021 große Fortschritte: Eine groß angelegte Studie konnte zeigen, dass eine Kombination aus dem Wirkstoff 3,4-Methylendioxymethamphetamin (besser bekannt unter der Abkürzung MDMA) und Gesprächstherapie die Symptome bei Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) signifikant reduzieren kann. In der Studie erfüllten bereits nach zwei Monaten nur noch halb so viele Teilnehmer:innen in der Wirkstoffgruppe die PTBS-Kriterien wie in der Kontrollgruppe.(6)
2021 auch ein erfolgreiches Jahr in der Astrophysik
Ebenfalls als Runners up ausgezeichnet wurden auch drei Forschungsergebnisse aus der Astrophysik, darunter Daten eines Roboters der NASA, der erstmals einen Blick in die Zusammensetzung des Marskerns lieferte. Außerdem zählen auch ein Experiment mit einem Fusionsreaktor in den USA sowie neueste Erkenntnisse, nach denen das Elementarteilchen Myon einen höheren Magnetismus hat, als das Standardmodell der Teilchenphysik vorhersagt, zu den Runners-up 2021.
Literaturtipps
(1) https://www.science.org/content/article/breakthrough-2021
(2) https://www.nature.com/articles/s41591-021-01533-0
(3) https://www.pflanzenforschung.de/de/pflanzenwissen/journal/proteine-falten-im-akkord
(4) https://alphafold.ebi.ac.uk/
(5) https://www.mpg.de/18095696/1223-evan-dna-in-archaeologischen-sedimenten-150495-x?c=2191
(6) https://www.kardiologie.org/kardiomyopathie/neurologie/innovative-crispr-cas-therapie-koennte-bei-attr-amyloidose-wirke/19553560
(7) https://www.nzz.ch/wissenschaft/die-partydroge-mdma-erweist-sich-als-wirksames-hilfsmittel-in-der-psychotherapie-ld.1624895