Die Vermessung der Zellen
Proteine sind keine Einzelkämpfer, sondern Teamplayer, denn ihre Interaktionen sind entscheidend für ihre Rolle als „Motor des Lebens“. In einem deutsch-amerikanischen Kooperationsprojekt haben Wissenschaftler:innen nun mithilfe systembiologischer Methoden das Zusammenspiel mehrerer tausend Proteine umfassend untersucht. Dabei entdeckten sie neue Netzwerke und Organisationsprinzipien in Zellen, die auch bei der Medikamentenentwicklung helfen können.

Vom Leben in Netzwerken
Das Leben kann man in den unterschiedlichsten Größenordnungen betrachten: von einzelnen Molekülen bis zu komplexen Systemen. Den Wechselwirkungen der jeweiligen Bestandteile kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Deshalb hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Zusammenspiel von Proteinen, Zellen oder sogar Organismen in biologischen Netzwerken mindestens so wichtig ist wie die spezifischen Eigenschaften der jeweils einzelnen Elemente. Für die Erforschung solcher Netzwerke hat sich eine eigene Disziplin entwickelt: die Systembiologie. Dieser Forschungszweig ist geprägt von der Verknüpfung der Lebenswissenschaften mit Mathematik und Informatik. Denn nur mit deren Methoden lassen sich die bei immer aufwendigeren Experimenten anfallenden großen Datensätze auswerten sowie die komplexen Wechselwirkungen biologischer Systeme quantitativ beschreiben und besser verstehen. (1)
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In einer groß angelegten Studie hat nun ein internationales Team des Chan Zuckerberg BioHubs in Kalifornien zusammen mit Wissenschaftler:innen des Max-Planck-Instituts für Biochemie in Martinsried bei München eine umfassende Karte des Proteinnetzwerks in menschlichen Zellen erstellt. Dabei verknüpften sie zudem die Verortung der Proteine innerhalb der Zelle mit ihren jeweiligen Interaktionsmustern. Die im Fachmagazin Science veröffentlichten Ergebnisse erlauben neue Einblicke in die komplexe Maschinerie von menschlichen Zellen. (3)
Mikroskopie im Akkord
CRISPR/Cas
CRISPR/Cas steht für Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats. Es handelt sich um eine im Laufe der Evolution entstandene Genomsequenz, mit der sich Bakterien gegen Viren (Bakteriophagen) wehren. Werden diese Fragmente viraler DNA (die ursprünglich auf natürlichem Wege in das Bakteriengenom integriert wurden) in RNA übersetzt, binden die RNA-Fragmente an sogenannte Cas (CRISPR associated)-Proteine.
In einem ersten Schritt hat das Team zunächst mithilfe der Genschere CRISPR/Cas eine Sammlung von gut 1.300 verschiedenen Varianten einer menschlichen Nierenzelllinie erzeugt. Pro Variante wurde dabei der Bauplan eines Proteins um eine kurze Gensequenz ergänzt, die als Anker für ein fluoreszierendes Molekül dient. Da in jeder Variante ein anderes Protein gewählt wurde, stand den Forscher:innen so eine Bibliothek von Zellen zur Verfügung, in denen jeweils ein Protein spezifisch markiert wurde. Vorteil dieser Methode ist, dass sie im Gegensatz zu anderen Verfahren zur Markierung von Proteinen, die Proteinmenge nur minimal verändert. Das ist von großer Bedeutung, da eine Überproduktion der Proteine ihr Verhalten ändern und so die Ergebnisse verfälschen kann.
Zur Bestimmung des Aufenthaltsorts der markierten Proteine in den Zellen und ihrer räumlichen Nähe zueinander wurden diese in einem Hochdurchsatzverfahren automatisiert mikroskopiert. Um die großen Bildmengen schnell und zugleich reproduzierbar auszuwerten, entwickelte das Team eigens eine Künstliche Intelligenz (KI)-basierte Software. Deren Besonderheit ist, dass sie auf dem sogenannten „unüberwachten Lernen“ beruht. Nur so können die Computerprogramme unabhängig von vorgegebenen Denkmustern arbeiten und neue Einblicke in die Zusammenhänge der Proteine liefern.
Fischen mit der Protein-Angel
Die räumliche Nähe zweier Proteine bedeutet nicht zwingend, dass sie auch miteinander interagieren. Deshalb ging das Team noch einen Schritt weiter: von jeder Zellvariante isolierten die Forscher:innen die Proteine und nutzten die zuvor eingebauten Markierungen, wie eine Angel, um die jeweiligen Zielproteine aus dem Zellextrakt herauszufischen. Dabei gingen ihnen gleichzeitig deren Interaktionspartner mit ins Netz, wenn sie am Zielprotein gebunden waren. Mittels Massenspektrometrie wurden die Bindungspartner anschließend identifiziert und dabei insgesamt über 30.000 verschiedene Proteininteraktionen gefunden.
Durch die Verknüpfung der Mikroskopiedaten mit den ermittelten Bindungspartnern konnte das Forschungsteam so eine detaillierte Karte des Proteinnetzwerks in der Zelle erstellen. Die neuen Ansätze bewiesen ihre Zuverlässigkeit bei einem Abgleich mit bereits bekannten Netzwerken, zudem sie deckten teilweise sogar bisher unbekannte Zusammenhänge auf. So war bislang von einigen der untersuchten Proteine kaum etwas über ihre Funktion bekannt. Abhängig davon, in welche Netzwerke sie eingebettet waren, konnten die Forscher:innen nun erstmals ihre Aufgaben vorhersagen.
Gefundene Zusammenhänge können bei Entwicklung neuer Wirkstoffe helfen
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Studie ist, dass wahrscheinlich insbesondere schwache Interaktionen zwischen Proteinen entscheidend für das Überleben von Zellen. Über sie funktionieren die meisten Zellfunktionen und verknüpfen damit zugleich verschiedene, teilweise räumlich getrennte Bereiche innerhalb der Zelle. Zwar untersuchten die Forscher:innen nur einen Teil der über 30.000 bekannten Proteine in menschlichen Zellen, außerdem könnten die Aufenthalts- und Interaktionsmuster einzelner Proteine bei anderen Zellarten davon teilweise abweichen. Aber die zugrunde liegenden Organisationsprinzipien der Proteine sind dennoch gleich.
Die gewonnenen Daten können insbesondere auch für die Arzneimittelforschung genutzt werden, etwa um alternative Angriffspunkte für neue Wirkstoffe innerhalb eines Proteinnetzwerks zu finden. Eine weitere Einsatzmöglichkeit ist zudem – allein auf Basis der Interaktionspartner und der räumlichen Verteilung – die Vorhersage, ob ein Protein zu den sogenannten intrinsisch ungefalteten Proteinen (IDP) gehört. IDP besitzen keine feste 3D-Struktur, sondern wechseln permanent zwischen verschiedenen meta-stabilen Zuständen. (4)
Die Identifizierung solcher IDP kann helfen, diese bereits früh in einem Entwicklungsprojekt als potenzielle Wirkstofftargets auszuschließen, um so Zeit und Ressourcen zu sparen. Damit Wissenschaftler:innen weltweit ihre Ergebnisse nutzen können, wurden alle Daten des Projekts in einer interaktiven Datenbank kostenfrei im Internet zur Verfügung gestellt. (5)
Literaturtipps
(1) https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/systembiologie-6217.php
(2) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4164942/
(3) https://doi.org/10.1126/science.abi6983
(4) https://www.pflanzenforschung.de/de/pflanzenwissen/lexikon-a-z/intrinsisch-ungeordnete-proteine
(5) https://opencell.czbiohub.org/