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Der Biotech-Standort Deutschland ist gut, aber andere Länder ziehen vorbei

Der Weg bis zu einem neuen Medikament ist lang: Von der Ermittlung eines Angriffspunkts im Krankheitsgeschehen und der Erfindung eines dazu passenden Wirkstoffkandidaten über klinische Studien bis zur Zulassung und Produktion vergeht oft mehr als ein Jahrzehnt. Biotechnologische Methoden sind dabei nicht mehr wegzudenken, und forschende Biotech-Unternehmen in Deutschland wirken bei diesem Prozess entlang der gesamten Wertschöpfungskette mit.

Mitarbeiterin in der Pharma-Produktion bedient den Monitor einer Fertigungsanlage

Mit Biotech gegen Corona

Nie zuvor lag der öffentliche Fokus so stark auf den Unternehmen der medizinischen Biotechnologie wie seit Beginn der Covid-19-Pandemie. Innovative Diagnostika, Therapien und Impfstoffe zur Erkennung, Behandlung und Prävention einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 werden dringend benötigt. Dabei kann die Branche ihre Stärken ausspielen, denn mit Forschungsausgaben von 16,2 % des Umsatzes liegen die forschenden Pharma- und Biotech-Firmen weit vor anderen Hochtechnologien wie Luft- und Raumfahrzeugbau (8,6 %) oder der Automobilindustrie (7,8 %). (1)

Aber auch unabhängig von der akuten Pandemie-Situation spielt die medizinische Biotechnologie in Deutschland eine wichtige Rolle für den medizinischen Fortschritt. In den Unternehmen der medizinischen Biotechnologie, die Produkte entwickeln oder bereits am Markt haben, arbeiten hierzulande 42.300 Beschäftigte. Damit hat sich ihre Zahl in den letzten zehn Jahren um das Anderthalbfache erhöht (2009: 27.500). Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich beim Blick auf die Pipeline – also auf die Biopharmazeutika, die sich im Entwicklungsstadium befinden: Waren es hierzulande vor zehn Jahren noch 468 Projekte, wurden im vergangenen Jahr bereits 640 Wirk- und Impfstoffkandidaten gezählt. Diese Erhebungen stammen aus dem aktuellen Biotech-Report von BCG und vfa bio. (2)

Deutschland als Standort für Biopharma-Produktion in Europa führend

Neben der Forschung und Entwicklung spielt Deutschland auch bei der Produktion von Biopharmazeutika eine entscheidende Rolle. Diese ist für die biotechnologisch, also mit lebenden Zellen hergestellten Wirkstoffe im Vergleich zu den chemisch-synthetischen Wirkstoffen sehr komplex. Für gentechnisch hergestellte Arzneimittel hat sich Deutschland als Produktionsstandort für 39 verschiedene, in der EU zugelassene Wirkstoffe etabliert – der Spitzenplatz für die Produktion von Biopharmazeutika in Europa. Denn hierzulande stehen sowohl hochqualifiziertes Personal als auch innovative und verlässliche Zulieferbetriebe zur Verfügung. Weltweit werden nur in den USA noch mehr Biopharmazeutika hergestellt. Allerdings droht der Pharmastandort Deutschland in Bezug auf die biopharmazeutischen Produktionskapazitäten den Anschluss zu verlieren:

Mittlerweile steht in Südkorea mehr Produktionskapazität zur Verfügung als hierzulande. (3)

Aktuell gefährdet zudem eine geplante gesundheitspolitische Maßnahme den Produktionsstandort: Ab August 2022 soll es in Deutschland auch für Biopharmazeutika einen automatischen Medikamentenaustausch in der Apotheke geben – also die Abgabe eines zu dem verordneten ähnlichen Medikaments an den Patienten ohne Rücksprache mit dem behandelnden Arzt. Aufgrund des zu erwartenden Preisdrucks steht dann zu befürchten, dass die Produktion von solchen Biopharmazeutika zunehmend ins Ausland verlagert wird. Die automatische Substitution von Biopharmazeutika ist deshalb, aber insbesondere auch aus medizinischen Gründen abzulehnen.

Deutschland könnte auch bei Gen- und Zelltherapien Standortortvorteile nutzen

Auch die Frage, wie sich Deutschland bei der Produktion von Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMP) aufstellt, könnte für die weitere Zukunft des Standorts von entscheidender Bedeutung sein. ATMP umfassen Gen- und Zelltherapeutika sowie biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte. Häufig werden diese Produkte patientenindividuell hergestellt und stellen hohe Anforderungen an die Produktion. Dabei gilt: „Der Prozess ist das Produkt“. Aufgrund der dafür benötigten hochqualifizierten Fachkräfte und des hier vorhandenen Know-hows verfügt Deutschland über Standortvorteile in diesem Bereich.

Von den aktuell zehn EU-weit zugelassenen ATMP werden fünf in den USA und sechs in Europa produziert (ein Präparat wird auf beiden Kontinenten hergestellt). Deutschland ist auch auf diesem Feld – noch – der europäische Vorreiter mit drei Produkten, gefolgt von Italien mit zwei und Spanien mit einem ATMP.

Mit Innovationen den Anschluss nicht verlieren

Wer künftig bei der ATMP-Produktion die Nase vorn hat, wird sich auch daran entscheiden, welcher Standort Lösungen für deren große Herausforderungen anbieten kann. Laut einer Studie von 2019 zählt dazu vor allem die schnelle Ausweitung der Produktion. (4) Für die klinische Erprobung neuer ATMP werden meistens am Entwicklungsstandort nur geringe Mengen des Arzneimittels benötigt, da damit nur wenige Patienten behandelt werden. Nach der Zulassung müssen die Kapazitäten – abhängig vom jeweiligen Therapiegebiet – aber ausgebaut werden. Da es sich um einen hochkontrollierten Prozess handelt, ist dabei der Korridor für Anpassungen nur sehr schmal. Die für größere Mengen sinnvolle Automatisierung der ATMP-Produktion steckt noch in den Kinderschuhen. (5) Hier gäbe es gute Voraussetzungen in Deutschland, diese Automatisierung in Zusammenarbeit mit darauf spezialisierten Forschungseinrichtungen und Firmen voranzutreiben.

Mit Blick auf die Entwicklung neuer ATMP zeigt sich allerdings, dass Deutschland den Anschluss an die USA und China zu verlieren droht: Unter den Ländern, in denen 2018 Gentherapie-Studien begonnen oder genehmigt wurden, folgt Deutschland zwar an dritter Stelle, allerdings mit großem Abstand, denn nur 4,4 % der klinischen Gentherapie-Studien werden hierzulande durchgeführt - im Vergleich zu 47,5 % in den USA und 39,2 % in China. (6)

Damit Deutschland fit für die Zukunft im Gebiet der ATMP werden kann, haben BCG und vfa bio mehrere konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet. Dazu zählen u.a. die Gründung einer ATMP-Taskforce der Landesüberwachungsbehörden, um deren Anforderungen zu harmonisieren, die Schaffung von Vernetzung und Infrastruktur in einem ebenfalls noch zu gründenden Deutschen Zentrum der Gesundheitsforschung für ATMP sowie die Etablierung Deutschlands als ATMP-Produktionsstandort durch Ausbildung von mehr Fachpersonal, Kapazitätserweiterung und Automatisierung in der Produktion.

Weil diese neuartigen Therapien in vielen Fällen Hoffnung auf eine langfristige Linderung oder sogar Heilung geben, wird auch für die Patientinnen und Patienten die Bedeutung von ATMP zunehmen. Das Ziel der forschenden Pharma- und Biotech-Unternehmen ist daher klar: Patientinnen und Patienten sowie ihren Ärztinnen und Ärzten neue Therapieoptionen für schwere und chronische Erkrankungen zu eröffnen. Deutschland spielt als Standort für Forschung, Entwicklung und Produktion von Biopharmazeutika eine wichtige Rolle. Um diese Position zu halten und weiter auszubauen, sind jedoch kontinuierlich Verbesserungen der Rahmenbedingungen erforderlich, damit auch künftig innovative Therapien in Deutschland mit entwickelt und produziert werden.

Literaturtipps